Ein immer wiederkehrendes Thema ist der vermeintliche oder tatsächliche Zwang, dass Frauen sich verschleiern müssen, einen Gesichtsschleier (Nikab) tragen müssen.
In diesem Blog-Beitrag geht es ausschließlich um die Situation in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Situation in Ländern wie Saudi-Arabien, dem Jemen, den Vereinigten Arabischen Emiraten usw. sieht ganz anders aus.
Es gibt, das bezweifelt eigentlich niemand, Mädchen und Frauen, die zum Tragen des Kopftuches (Hidschab) gezwungen werden. Dabei ist dieser Zwang nur einer von vielen. Der Zwang zur Verschleierung tritt niemals allein auf, ohne andere Formen der Unterdrückung von Mädchen und Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Umgekehrt gibt es viele Mädchen und Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts Unterdrückung erfahren, ohne zur Verschleierung gezwungen zu werden. Schätzungsweise gibt es deutlich mehr unterdrückte Mädchen und Frauen ohne Schleier als mit. Das betrifft wahrscheinlich auch muslimische Mädchen und Frauen mit Migrationshintergrund. Aber anders als beim Schleier interessiert das oft nicht, zumal es nicht sichtbar ist.
Da viele Menschen annehmen, dass der Gesichtsschleier (Nikab) schlimmer wäre als das Kopftuch und niemand ihn freiwillig tragen würde, wird oft angenommen, dass der Anteil der Mädchen und Frauen, die den Nikab gezwungenermaßen tragen, noch höher sein müsste als beim Kopftuch. Beweise für diese Annahme gibt es allerdings keine.
Zahlen?
Wir haben keine Zahlen, wie viele Frauen in Deutschland, Österreich und der Schweiz den Nikab tragen, es gibt nur Schätzungen, die weit auseinanderliegen. Die oft kolportierte Zahl von 300 Frauen in Deutschland ist, da sind sich eigentlich alle Experten einig, viel zu gering. Vermutlich liegt sie zwischen 2.000 und 4.000 Frauen, die den Schleier zeitweise oder regelmäßig tragen. In Österreich und der Schweiz liegt die Zahl jeweils deutlich darunter.
Für Deutschland wird geschätzt, dass etwa ein Drittel der Nikab-Trägerinnen zum Islam konvertierte Deutsche sind. Mindestens ein weiteres Drittel sind Schätzungen zufolge Muslimas, die sich ohne entsprechende Tradition in ihrer engeren Familie für den Nikab entschieden haben. Höchstens ein Drittel, wahrscheinlich weniger, sollen Frauen sein, in deren engerer Familie der Nikab Tradition ist. Zugleich nimmt man an, dass in diesen Familien die Zahl der Mädchen und Frauen überwiegt, die anders als ihre Mütter oder Großmütter keinen Nikab tragen – bislang nicht oder nicht mehr.
Schaut man in Familien, in denen ein Mitglied den Nikab trägt, so ist auffällig, dass oft nicht alle weiblichen Familienmitglieder den Nikab tragen.
Nikab gegen den Wunsch der Familie
Aus Gesprächen mit Nikab-Trägerinnen geht oft hervor, dass sie den Nikab entgegen den Wünschen der Familie (Eltern, Ehemann) tragen und sich mit ihrem Wunsch, sich zu verschleiern, gegen einen gewissen Druck erwehren müssen. Nicht jeder Muslimin, die den Nikab gerne tragen möchte, gelingt es, sich mit diesem Wunsch gegen die Familie durchzusetzen. Ich habe mit mehreren Frauen gesprochen (auffällig oft Geflüchtete aus Syrien), die den Nikab tragen würden, aber der Ehemann ist strikt dagegen. Oft haben diese Männer Angst, dass ihre Frauen durch den Nikab Opfer von Übergriffen werden oder sie verdächtigt werden, ihre Frauen zur Verschleierung zu zwingen. „In Syrien habe ich den Nikab stets getragen, aber hier ist mein Mann leider dagegen“, habe ich mehr als einmal gehört.
Gründe für den Nikab
Frauen, die den Nikab anlegen, sind meist älter als 20 Jahre, oft nach der Geburt des ersten Kindes. Manche sagen, sie tun es aus Dankbarkeit, weil Gott ihnen ein gesundes Kind geschenkt hat. Sie haben den Wunsch, ihrer Dankbarkeit auf diese Weise sichtbar Ausdruck zu verleihen. Andere beginnen nach der Haddsch, der großen Wallfahrt nach Mekka, mit dem Tragen des Nikab. Oft ist es ein besonderer Einschnitt in ihrem Leben, der sie bewegt, den Nikab anzulegen.
Unterdrückung
Ich nehme an, dass es durchaus Mädchen und Frauen gibt, die zum Tragen des Nikab gezwungen werden, aber ihr Anteil an den Nikab-Trägerinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz dürfte sehr gering sein. Dafür spricht auch, dass viele dieser Frauen den Nikab nach einer Weile wieder ablegen – im Schnitt nach geschätzt fünf Jahren. Oft tun sie dies aufgrund des Drucks im sozialen, beruflichen oder familiären Umfeld, nicht aufgrund einer freien Entscheidung.
Mädchen und Frauen, die zum Tragen des Nikab gezwungen werden, erfahren auch auf anderen Gebieten Unterdrückung. Sie dürften ein staatliches Verbot eher ablehnen, weil es unter Umständen bedeutet, dass sie dann die Wohnung nicht mehr verlassen dürfen, was wahrscheinlich oft als eine größere Einschränkung empfunden wird als das Tragen des Nikabs. Es würde ihnen auch die Möglichkeit nehmen, sich Hilfe zu suchen, um einer Zwangslage zu entkommen.
Folgen eines Verbots
Frauen, die den Nikab freiwillig tragen, werden durch ein Nikab-Verbot ihrer Freiheit beraubt. Sie haben dann die Wahl, entweder entgegen ihrer religiösen Überzeugungen den Nikab abzulegen oder die Wohnung nicht mehr zu verlassen oder bewusst gegen das Verbot zu verstoßen.
Ein Nikab-Verbot würde für keine Frau, die den Nikab trägt, einen Fortschritt bedeuten. Es würde alle diese Frauen in eine schwierige Situation bringen.
Manche, die hierzulande ein Verbot fordern, begründen das mit der Situation in Afghanistan, Saudi-Arabien oder anderen Ländern. Allerdings darf man Frauen in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht dafür bestrafen, dass in anderen Ländern Männer Unrecht begehen. Dann müsste, folgt man dieser Linie konsequent, auch noch manches andere verboten werden, angefangen mit der Ehe, weil in anderen Ländern viele Frauen zur Ehe und zu deren Vollzug gezwungen werden.
Menschenrechte wie die Religionsfreiheit sind keine Medaille, die wir für das Wohlverhalten der Männer in anderen Ländern verleihen. Sie wurzelt in der unverletzlichen Würde des Menschen und kann nicht durch das Wohlverhalten anderer verdient werden. Wer so denkt, tritt unsere Grundrechte mit Füßen.
Wie schlimm ist das Tragen des Nikabs?
Viele Menschen nehmen an, es sei sehr schlimm, einen Nikab tragen zu müssen. Eigene Erfahrung haben sie freilich so gut wie nie. Schon gar nicht über einen längeren Zeitraum hinweg, über Jahre. Oft sind sie aber auch nicht bereit, Frauen zuzuhören, die den Nikab freiwillig tragen. Manchmal wird uns vorgeworfen, wir litten unter dem „Stockholm-Syndrom“, seien gehirngewaschen oder Fanatikerinnen.
Wie es ist, den Nikab zu tragen, empfindet natürlich jede Frau anders.
Für manche ist es unvorstellbar, das Gesicht zu bedecken, für andere nicht, für manche sogar wünschenswert. Manchen fällt das Atmen unter dem Stoff schwer, anderen nicht. Und wer zum Tragen des Nikabs gezwungen wird, dürfte ihn eher als unangenehm empfinden als eine Frau, die ihn freiwillig und aus Überzeugung trägt. Manche fühlen sich unter dem Nikab unsichtbar, ihrer Weiblichkeit beraubt. Für andere ist der Nikab Teil ihrer Identität. Ohne ihn sind sie nicht als die Frauen sichtbar, die sie tatsächlich sind.
Nach meiner eigenen Erfahrung (die natürlich sehr subjektiv ist) ist es gar nicht schlimm, einen Nikab zu tragen. Es braucht zuerst ein wenig Gewöhnung, aber mir fällt weder das Atmen schwer noch erlebe ich meine Sicht zu sehr eingeschränkt (was auch immer vom jeweiligen Nikab und davon abhängt, wie er getragen wird). Wenn ich nach Hause komme, vergesse ich manchmal, dass ich den Nikab noch trage (weil ich zum Beispiel erst einmal Tiefkühlware wegpacken will) und nehme ihn dann nicht sofort ab, sondern erst, wenn er mir dann doch wieder ins Bewusstsein kommt.
Wie zuvor erwähnt, ist es von Frau zu Frau unterschiedlich, wie das Tragen des Nikabs ertragen wird. Die Annahme, keine Frau würde den Nikab jemals freiwillig tragen, ist jedenfalls komplett falsch. Ohne meinen Nikab fühle ich mich in der Öffentlichkeit unvollständig. Genauso gut könnte ich oben ohne herumlaufen, es würde sich für mich nicht viel schlimmer anfühlen.
Meine Erfahrung ist, dass am Schlimmsten eigentlich einige der rassistischen Reaktionen auf den Nikab sind. Sie sind oft auch ein Grund, warum Frauen den Nikab wieder ablegen (oder sich gar nicht erst trauen, ihn anzulegen).
Unangenehm sind manche der Fragen, die Nikab-Trägerinnen regelmäßig gestellt werden. Manche verletzen die Intimsphäre der Frauen.
Unter dem Strich empfinde ich den Nikab als angenehm. Persönlich störe ich mich eher am BH und an Jeanshosen. Ich mag Make-up, aber ich empfinde es auf dem Gesicht als deutlich unangenehmer als den Nikab. Und meine geliebten großen und schweren Ohrringe sind auch unangenehmer. Soll ich von hohen Absätzen anfangen? Ich mag es durchaus, hohe Absätze zu tragen, das fühlt sich an wie Tanzen – außerdem bin ich dann meist eher auf Augenhöhe mit Männern. Aber bequem ist oft etwas anderes.
Habe ich die Wahl zwischen westlicher Kleidung samt Make-up, Schmuck und hohen Absätzen und meinem orientalischen Outfit samt Nikab, ziehe ich Letzteres immer vor, weil es bequemer ist. Aber ja, manchmal ist es angenehm, mich aufzubrezeln (jedenfalls zu Hause) – aber nicht unbedingt bequem.
Freiheit oder Paternalismus?
Wichtig ist, dass wir Frauen frei entscheiden können. Denn nur, wenn wir die Freiheit haben, zu wählen, sind wir wirklich frei. Es gibt keine Freiheit ohne die Freiheit, eine Wahl zu treffen.
Manche glauben, wir Nikab-Trägerinnen seien irgendwie unmündig. Wir wüssten gar nicht, was uns gut tut und dass der Schleier nicht gut für uns ist. Darum müssten wir wie unmündige Kinder bevormundet werden. Das ist Paternalismus. Paternalismus basiert auf patriarchalen Strukturen. So entmündigen die Taliban, die Machthaber in Teheran die Frauen - und so tun es etliche „wohlmeinende“ Menschen im Westen, die alle überzeugt sind, dass Frauen zu ihrem Besten gezwungen werden müssen. Ganz ehrlich, die Alice Schwarzers im Westen und die Machthaber in Teheran unterscheiden sich nicht wirklich voneinander, wenn es darum geht, Frauen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.